Viele Unternehmen nutzten in den letzten zwei Jahren Home Office zur beschleunigten Umsetzung ihrer New Work Konzepte. Zusammenarbeit musste breiter gedacht und gelebt werden, neue Kooperationstools wurden konsequenter genutzt.
Die Unternehmen wurden kurzfristig nicht notwendig schneller oder qualitativ besser, aber die Belastung der Mitarbeitenden und Teams stieg in vielen Branchen an.
Spannend war der Austausch von Erfahrungen und Ideen, wie sich die Situation 2021 bis 2022 entwickelte, wie man Flow erreicht und Überlast vermeidet. Die DACH30 Gruppe ging an zwei aufeinander folgenden Treffen 2022 nach. Hier ein erstes Ergebnis
Ausgangslage – Symptome
Woran kann eine Dysbalance betr. Arbeitsbelastung und Arbeitsressourcen in Unternehmen mit skalierter Agilität erkannt werden:
- Deutlicher Anstieg von Kurzabsenzen
- Erkennbarer Anstieg von Reintegrationsfällen (psychische Krankheiten, Burnouts)
- Anstieg von Zeit- und Ferienguthaben
- Anstieg der internen Mobilität (interne Rollen-/Funktionswechsel) und der Austritte
- Feedback bei Umfragen zu Zeitdruck und Belastung steigen vor allem bei den Entwicklungsteams
- Auf Teamentwicklungs- und Lernworkshops wird zugunsten von Nacharbeiten an nicht abgeschlossenen Arbeiten (Features/Stories) verzichtet
- Konflikte und Eskalationen nehmen zu
- Die Durchlaufgeschwindigkeit von Lieferobjekten (Features/Stories) nimmt ab und belastet so das Folge-PI
- Es werden häufig mehr Lieferobjekte versprochen, als aus Erfahrung lieferbar sind
Formen der Überlast
Die wahrgenommene Arbeitsbelastung kann unterschiedliche Herkünfte haben. Erschwerende Rahmenbedingen, zu grosses Arbeitsvolumen, zu wenig Ressourcen, die richtigen Kompetenzen am falschen Ort, dies sind nur einige Möglichkeiten. Meist trifft man in der Praxis auf einen Mix verschiedener Faktoren.
In einem Arbeitssystem mit gelebter Transparenz und psychologischer Sicherheit können Belastungsspitzen frühzeitig erkannt werden.
Fehlt die Transparenz, haben wir keine Möglichkeit, die Entwicklung zu steuern.
Agilitätsprinzipien und entsprechende Frameworks (z.B.SAFe) müssen verstanden und konsequent gelebt werden. Alleine die Einführung entsprechender Rituale hilft nicht weiter («Cargo Kult»). Die dafür zuständigen Rollen stehen dabei besonders in der Verantwortung.
Risiken – Negativspirale
- Steigende Personal- und Transaktionskosten durch laufenden Knowhow-Drain und zusätzliche Belastung der Teams, bis New-Joiner eingestellt, eingeführt und umfassend operativ sind
- Erhöhte Überlastung der verbleibenden Mitarbeitenden und somit Motivationsverlust
- Verzögerte Lieferung von Inkrementen und damit Verzögerung von Initiativen (cost of delay); In der Folge, unzufriedene Leistungsbezüger
- Steigende technische Schulden aufgrund von Planorientierung (Belastung der OPEX-Kosten, erhöhtes Fehlerrisiko, aufgestauter Investitionsbedarf)
- Zusatzkosten für Lieferantenleistungen als verlängerte Werkbank (CAPEX-Kosten)
- Imageverlust bei Auftraggebenden, Kundinnen und Kunden, Partnern und Lieferanten sowie auf dem internen und externen Arbeitsmarkt
All dies trägt bei, die Dynamik einer Negativspirale zu erhöhen.
Hypothesen zur Herkunft von Überlast
Individuelle Ebene:
- Hierarchiedenken (ich darf nicht nein sagen)
- Laufbahnfokus (ich will weiter kommen)
- Harmoniebedürfnis (ich will es allen recht machen)
- Pflichtbewusstsein (wenn ich es nicht mache, macht es niemand)
- Fehlende Skills um Aufgaben breiter abzustützen (wird durch den Fachkräftemangel tendenziell verstärkt)
- Plan- vor Nutzenfokus (Nutzen ist «egal», Hauptsache der Plan ist einhalten oder ich maximiere alle 3 Aspekte)
- Resignation (ich habe es gesagt und lass es jetzt bleiben)
- Rollenverständnis (die anderen sind zuständig)
- Priorisierungsdefizite, Verzettelung (alles hat Platz)
- Verpflichtung (Push) statt Verantwortung (Pull) -> Responsibility Process
Team-/Organisationsebene:
- Fehlende Transparenz (z.B. Indikatoren und Kennzahlen zum Flow)
- Fehlende psychologische Sicherheit
- Ungelöste Zielkonflikte
- Effizienz vor Effektivität
- Leading by (Miss)example wird nicht sanktioniert
- Mangelnde Feedbackkultur
- Mangelnde Lernkultur
- Über(Last) gehört zum guten Ton
- Fehlende Entscheidstrukturen
- Fehlendes Rollenverständnis und daraus folgend erhöhtes Diskussionspotential
- Inkonsequente Nutzung und Umsetzung agiler Praktiken (z.B. Priorisierung, Inspect & Adapt)
- Ungeeignete Wahl der Arbeitsmethodik (vgl. Stacey-Matrix)
Handlungsempfehlungen - Verstehen
Es gibt eine Vielzahl von möglichen Massnahmen und Ansätzen. Der erste Schritt ist aber immer das «Verstehen». Erst dann lassen sich weitere, zielführende Massnahmen einleiten. Anbei drei erste Schritte, die sich auf individueller Ebene und in der Organisation umsetzen lassen.
Individuelle Ebene:
- Regelmässige Reflexion zu Themen wie z.B. mache ich was wichtig ist, was hindert mich nein zu sagen oder wie mache ich es effizient
(gleichermassen auch auf Team-/Organisationsebene hilfreich) - Good enough Approach statt Perfektion
- Austausch von regelmässigen, offenen persönlichen Feedbacks (die positive Absicht zählt)
Team-/Organisationsebene:
- Transparenz im Arbeitssystem, damit das Pull-Prinzip funktionieren kann
- Was braucht es wirklich (klare Priorisierung nach Wert) bzw. Verzichtsplanung (was brauchen wir nicht mehr, stoppen wir, schalten wir ab)
- Entwicklungsradar zu Arbeitslast und Ressourcen verankern
verstehen – gestalten – validieren
Handlungsempfehlungen - Gestalten
Aus den Erkenntnissen des Verstehens leiten sich verschiedene Gestaltungsoptionen ab. In der Regel landen wir sehr schnell bei Massnahmen, welche z.B. Skills, Verhalten, Strukturen, Prozessen oder Methoden ansetzen. Mit Hilfe des AQAL-Modells von Ken Wilber können Massnahmen im Sinne einer ganzheitlichen und damit nachhaltigeren Weiterentwicklung einfach verortet werden.
Um nicht dem «Cargo Kult» zu verfallen, lohnt sich der Blick auf die linke Seite der Matrix, um dort nach unterstützenden Massnahmen zu suchen.
verstehen – gestalten – validieren
Handlungsempfehlungen - Validieren
Erhöhte Transparenz zur Arbeit im System hilft der Organisation besser zu Fokussieren und drohende Last-Spitzen zu erkennen. Die laufende Überwachung bestimmter Parameter hilft als Frühwarnsystem Tendenzen zu überhöhter Belastung der Belegschaft zu erkennen.
- Durchlaufzeiten von Inkrementen
- Impediments
- Synchronisationsaufwand
- Parallelität von gestarteten und abgeschlossenen Incrementen(Cumulativ Flow Diagram)
- Liefertreue (Flow Predictability)
- Verhältnis von neuen Funktionen, Enablern und Wartungsarbeiten (Flow Distribution)
- Einhalten von WIP-Limits
- Confidence Votes um das «Vertrauen» der Delivery Organisation in die Planung abzufragen
- Viele Übergabestellen aufgrund ungünstig geschnittener, Operational Value Streams
verstehen – gestalten – validieren
verabschiedet auf dem DACH30 Meeting vom 14.-16-11-2022 in München